Freitag, 24. April 2015

Mittwoch, 1. April 2015

Marquis de SADE dropt 1797* die Frei-Schreib-Weisung für alle Schriftsteller und Eigen-Realisten in "Justine und Juliette" in dem er die versaute Juliette zu ihrer Freundin sagen lässt:

"Verbringen Sie zwei volle Wochen, ohne sich mit Schlüpfrigkeiten abzugeben, lenken Sie sich ab, vergnügen Sie sich anderweitig; jedenfalls dürfen Sie bis zum fünfzehnten Tag keinerlei libertine Gedanken aufkommen lassen. Sobald es soweit ist, sollten Sie sich in vollkommener Abgeschiedenheit, Stille und Finsternis allein zu Bett legen; rufen Sie sich dortselbst all das in Erinnerung, was Sie während dieser Zeitspanne verdrängt haben, und geben Sie sich sanft und träge jenem flüchtigen Fingerspiel hin, durch das Sie sich und andere so unvergleichlich aufzureizen wissen. Lassen Sie alsdann Ihrer Einbildungskraft freien Lauf, auf daß Sie Ihnen Stufenweise die verschiedenartigsten Ausschweifungen vorführe; spielen Sie sie in allen Einzelheiten durch; lassen Sie sie nacheinander Revue passieren; stellen Sie sich vor, daß die ganze Welt Ihnen gehört… daß Sie jedes beliebige Wesen verwandeln, verstümmeln, vernichten und flachwalzen dürfen; Sie haben nichts zu befürchten; wählen Sie aus, was Ihnen am meisten Lust verschafft, doch lassen Sie nichts außer Acht, unterdrücken Sie nichts; haben Sie mit niemanden Erbarmen; lassen Sie sich durch keinerlei Bande zurückhalten; lassen Sie sich durch nichts zügeln: Ihre Einbildungskraft soll das Unterfangen allein bestreiten, und vermeiden Sie namentlich jegliche überstürzten Bewegungen; Ihre Hand soll Ihrem Kopf gehorchen, nicht Ihre Heißblütigkeit. Unmerklich wird Sie eines der vielgestaltigen Gemälde, die Sie vor Ihren Augen haben vorüberziehen lassen, stärker in seinen Bann ziehen als die übrigen, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Sie es nicht länger verdrängen und ersetzen können; jene Vorstellung, welche Sie auf die von mir beschriebene Weise gewonnen haben, wird Sie beherrschen, gefangennehmen; Taumel wird sich Ihrer Sinne bemächtigen, und indes Sie bereits glauben, alles in die Tat umzusetzen, werden Sie entladen wie eine Messalina. Sobald dies vollbracht ist, zünden Sie Ihre Wachslichter wieder an und übertragen jene Ausschweifung, die Sie just erhitzt hat, auf ein Schreibtäfelchen, ohne auch nur den allerflüchtigsten Umstand auszulassen, der das ganze bis in die letzte Einzelheit so prickelnd zu gestalten vermochte; schlafen sie hierüber ein, lesen Sie Ihre Aufzeichnungen am folgenden Morgen durch, und fügen Sie, indem Sie den ganzen Ablauf wiederholen, alles ein, was Ihnen Ihre mittlerweile bereits wieder etwas abgekühlte Einbildungskraft einflüstern mag, um nach Möglichkeit den Reiz einer Vorstellung zu erhöhen, die Sie bereits Ficksaft gekostet hat. Verarbeiten Sie nun diese Vorstellung zu einem Textkörper, und während Sie sie ins reine schreiben, mögen Sie abermals sämtliche Spielereien einflechten, die Ihnen durch den Kopf schwirren; schreiten Sie alsdann zur Tat, und Sie werden sehen, daß just diese die Abirrung war, die Ihnen am besten entspricht und Ihnen bei ihrer Umsetzung am meisten Wonne spendet."

*Die 1799 in Paris gedruckte Ausgabe gibt bewusst irreführend das Jahr 1797 und einen fiktiven Verlagsort in Holland an. Eine frühere Ausgabe erschien bereits 1795; A.d.H.







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"[…] die Wonnen der mörderischen Imagination […]
Es stimmt [Sade] hat nicht alles getan, was er sich vorstellte. Aber von diesen Vorstellungen hat er sich lustvoll ausgemalt, wie zerstörerisch sie wirken könnten. Er hat endlich alle Energie des bösen Handelns ins Schreiben, in die Schrift gelegt. […]
"Ich möchte", sagt die Clairwil im Roman JULIETTE, "ein Verbrechen finden, das unaufhörlich fortwirkt, auch unabhängig von mir, so daß es keinen Augenblick meines Lebens gäbe, nicht einmal wenn ich schlafe, da ich nicht Ursache einer Unruhe bin - einer Unordnung solchen Ausmaßes, daß sie zu allgemeiner Verderbnis führt, zu so eindeutiger Zerrüttung, daß auch über mein Leben hinaus sich ihre Wirkung fortsetzt." Welches Verbrechen könnte das sein? Juliette gibt die Antwort: "Versuch es mit dem geistigen Verbrechen, indem du schreibst."
[Sade] hat eine Darstellung des Bösen gegeben, die zur bösen Darstellung wird - jedenfalls war dies der Traum des Autors. Er wollte ein Schreiben erfinden, das selbst ein Akt des Bösen ist. Die Kräfte der Verführung und Zerstörung sollten sich im Text sammeln, und jeder der damit in Berührung kommt, sollte davon angesteckt werden, wie man von einer Krankheit infiziert wird. Die Literatur sollte zur Penetration werden. […]"

Rüdiger Safranski,
Das Böse oder Das Drama der Freiheit,
Seite 211, 212
Carl Hanser Verlag,
1997